Eine gewebte Insel

Von einem der im letzten Beitrag erwähnten „Webfanatiker“ möchte ich berichten:

Hans,  ein elfjähriger, in jeder Hinsicht unauffälliger Junge, kam zum Weben. Mir fiel auf,  dass er,  der bis dahin nie einen Webrahmen gesehen hatte,   sehr schnell mit dem Gerät vertraut war und Wert auf eine schöne Farbauswahl legte. In der zweiten Stunde sagte er sofort, dass er „Meer, eine Insel mit einer Palme darauf und eine Sonne“ weben möchte. Ich war skeptisch, sagte aber, dass ich ihm so viel Hilfestellung wie möglich geben werde.

Als er das flache Halbrund der Insel webte, merkte ich, dass er genau begriff, worauf es ankommt. Den Baum zu weben stellte eine ganz schöne Herausforderung dar. Er kam mit dem ständigen Fachwechsel gut klar, nie irrte er sich. Ich hatte die Vorstellung, ihn den Baum als frei in die Fäden eingearbeitetes transparentes Bild  weben zu lassen. Das gefiel ihm nicht. Es war ihm wichtig, dass alle Flächen mit „blauem Himmel“ ausgefüllt sind – eine immense Arbeit.  Für die Sonne arbeitete ich ihm das Halbrund vor, mit traumwandlerischer Sicherheit   setzte er die obere Rundung darauf. Ich gab ihm nur die allernötigsten Erklärungen, da ich daneben noch ein zweites Kind anleitete. Alles, womit sich Webschüler und Kursteilnehmer oft schwer tun, gelang ihm ohne Probleme: Fachwechsel, Steigung, Aneinandersetzen von Farbflächen.

Zur letzten Webstunde durfte er in meine Werkstatt kommen. Nicht nur, dass er in unglaublicher Geschwindigkeit mit dem recht dünnen Chenillegarn die letzten Teile des Himmels beendete, in der restlichen Viertelstunde sah er sich gründlich in der Werkstatt um. Kein Detail war ihm unwichtig. Nebenbei führte ich ihn  in die Funktion des                 4-schäftigen „Ashford-Hebelwebstuhls“ ein, zeigte ihm, wie man den Schussköper mit einem Hebel webt und gab ihm das Zahlenschema für den mit zwei Hebeln zu webenden gleichseitigen Köper. Ich schnitt dann seine gewebte Palmeninsel aus dem Webrahmen, und als ich nach ein paar Minuten zu Hans schaute, hatte er den noch schwierigeren Kettköper mit drei Hebeln gewebt, ohne Fehler, mit gleichmäßigem Anschlag und perfekter Webekante. Obwohl ich wirklich schon sehr web-begeisterte Kinder erlebt habe, machte Hans mich sprachlos. Ich fragte ihn, ob er sich in der Schule oder zu Hause auch mit künstlerischen oder handwerklichen Arbeiten befasst, und er antwortete: „Nein, ich spiele nur Handball“.

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